Swantje-Britt Koerner Copyright 2020 Christine Rogge

Prosa 2

Erstveröffentlicht am 22. Februar 2002 auf www.faz.net

 

Wenn der Staat im Leibe stecken bleibt

Von Swantje-Britt Koerner

 

Christa Wolf: Leibhaftig, Erzählung, 184 S., gebunden, Luchterhand Literaturverlag Februar 2002. ISBN-10: 3630871127, ISBN-13: 978-3630871127

 

Es hätte ein Erzählexperiment glücken können. Was Christa Wolf in ihrem neuen Buch ‚Leibhaftig' versucht, war in früherer Prosa schon vorgeprägt, es gab sprachliche Etüden zum nun vorliegenden Wagnis.

 

Der Leser kennt diese eigene, unaufgeregte und dennoch intensive Stimme, die in der deutschen Literaturgeschichte zu Hause ist und die ihr Kardinalthema, den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, mit mythischen Bildern und Figuren durchformt - nach der Lektüre von "Leibhaftig" kann man jetzt von einem "Bauchthema" sprechen. Die assoziierende Sprache ist der mittlerweile 72-Jährigen nicht fremd, in dieser Verdichtung gleichwohl ungewöhnlich.

 

Die Erzählung beginnt mit dem Wort "Verletzt", das man als finales Wort, als Todesanzeige zu lesen versteht, und endet bei der tröstend vermittelten Zeile "Du sollst ja nicht weinen" aus einem späten Gedicht Ingeborg Bachmanns.
Zwischen Anfang und Ende liegt eine Flut mehr oder minder bewusst reflektierter Erinnerungen der Zeit vor 1988. Christa Wolf verteilt diesen Bewusstseinsstrom auf eine Ich-Erzählerin und ein neutraleres, weil von außen betrachtetes "sie".

 

Ich-Erzählerin: "Jetzt bricht die Heilung aus..."

 

Im Körper der Patientin, die "verletzt" ins Krankenhaus eingeliefert wird, schwärt eine eitrige Blase, irgendwo da, wo der Blinddarm und nach eigenem Empfinden der Patientin die Seele sitzt. Die Ärzte operieren mehrere Male, es geht um Leben und Tod - Fieberschübe, Ängste und halluzinatorische Bilder begleiten die Prozedur, und die Ich-Erzählerin erkennt: "Die Infektion mochte früh erfolgt sein, die jahrzehntelange Inkubationszeit ist vorbei, jetzt bricht die Heilung aus, als schwere Krankheit."

Da ist er wohl, der bekannte Wolfsche Klang, und diesmal ist er so persönlich rückgebunden, dass nicht einmal der Kunstgriff, das leidende Ich mit einer anonym als Patientin vergesellschafteten dritten Person Singular, mit einer Fluchtburg außerhalb des eigenen Körpers zu koppeln, darüber hinweg täuschen kann.

 

Die Krankheit als Metapher für Unerträglichkeiten des Systems ist ein bekanntes Sujet im Werk Christa Wolfs. Mal waren es - kaum verschlüsselt - ihre eigene Hüftoperation und ihre Erfahrungen mit der Psychiatrie der DDR in "Hierzulande Andernorts", 1999, mal eine unheilbare Krebskrankheit in "Nachdenken über Christa T." von 1986, die Marcel Reich-Ranicki mit dem Satz "Christa T. stirbt an der Leukämie, aber sie leidet an der DDR" kommentierte. Die Autorin selbst wurde immer wieder von Krankheiten heimgesucht, hatte einen Blinddarmdurchbruch.

 

Die Patientin in "Leibhaftig" wünscht sich, dass die Ärzte bis zur "Wurzel des Übels" vordringen, "zum Eiterherd, dorthin, wo der glühende Kern der Wahrheit mit dem Kern der Lüge zusammenfällt". Sie begleitet diese Anstrengungen mit einem enormen Kraftaufwand. Es ist die Erinnerung des in die Bauchgrube hinein Verdrängten und nicht An-ein-Ende-Gedachten, das sie auszutreiben versucht.

 

Paten der Heilung: Hans Koch und Ingeborg Bachmann

 

Hilfe bei diesem exorzistischen Akt findet Christa Wolfs Patientin weniger in den Ärzten, die sich - Seitenhieb auf den maroden Staatsapparat - die einzig wirksame Arznei aus dem Westen kommen lassen müssen, sondern vielmehr in den Figuren des Gegenspielers Urban, einem stromlinienförmigen Karrieristen, der sein Vorbild in dem hochrangigen Literaturwissenschafts-Apparatschik Hans Koch hat und der sanften, schönen Anästhesistin Kora Bachmann, die ihren Nachnamen mit der Dichterin teilt.

Urban, der ehemalige Kommilitone, verkörpert die alte DDR-Staatsräson, verwehrt sich gegen "unproduktiven Widerstand" und will sie in den Passagen, da sie sich seiner erinnert, zum Stillstand, zum Stillehalten, zum Stillschweigen verführen. "Der neue Mephisto", nennt sie ihn deshalb. Die Gewissheit über seinen Selbstmord (Hans Koch erhängte sich kurz vor der Wende in einem Wäldchen bei Berlin), löst bei ihr den Überlebenswillen aus. Und die Bachmann, die sie erst narkotisiert, holt sie später aus ihrem Dämmerzustand wieder heraus, ‚sie ist die Botin, welche die noch toten Seelen auf ihrem Gang zum Hades abfängt, sie der Unterwelt entreißt und zurückbringt in das Reich der Lebenden."

 

So nah war sich Christa Wolf womöglich noch nie. Doch ihre Stimme, die so wundervoll konzentriert anhebt - "Verletzt. Etwas klagt, wortlos. Ein Ansturm von Worten gegen die Stummheit, ... Wohin es sie jetzt treibt, dahin reichen die Worte nicht..." -, kann ihre Kraft nicht durchweg halten, vielleicht, weil sie sich des Persönlichen, allzu Persönlichen, nicht erwehren kann. Manches gelingt mit gewohnter Dichte, diesem Vermögen, in einem Bild mit wenigen Hinweisen verschiedene Bedeutungs- und Zeitebenen zusammen zu schnüren. Zum Beispiel, wenn sich die Patientin erinnernd durch die Katakomben des alten Hauses in der Friedrichstraße bewegt und in ihrer Vorstellung sowohl die Liebesgeschichte ihrer Tante, der laut Zeitungsartikel im Keller ermordete Säugling und die eigenen kranken Eingeweide zusammen fließen.  

 

Patientin geheilt, doch wo bleibt die Dichterin?

 

Ein Großteil ihrer Erzählkunst zerfällt der Autorin, und das ist ungewöhnlich und stimmt traurig. Da gibt es Sätze, die vorwärts streben und dann doch auf der Stelle treten. Da werden Sprichwörter und banale Redewendungen hinzugezogen, derer es gar nicht bedurft hätte. "This is the point of no return. Große Flammenschrift an dunkler Wand" -ein Spruch wie dieser wird nicht mit dem richtigen Ton in die Erzählung eingebunden und bleibt als Phrase übrig. Und so entgleitet, was als Selbstironie der Patientin hätte verstanden werden können.

 

"Leibhaftig" gerät zum autobiografischen Dokument aus der Spätzeit eines zerfallenden Staates. Christa Wolfs Patientin hat Abschied genommen vom Gestrigen, sie hat sich im Leben zurückgemeldet. Von der Dichterin können wir mehr erwarten.